
Wisst ihr, was ein Cargo-Kult ist? Kennt ihr den Begriff Cargo-Kult-Wissenschaft? Falls dem so ist, müsst ihr eigentlich nicht weiterlesen, denn um viel mehr geht es hier heute nicht. Ich freue mich zwar, falls ihr trotzdem bei mir bleibt, aber beschwert euch dann bitte hinterher nicht, weil ihr nichts Neues gelernt habt. Für alle anderen kommt jetzt die Erklärung:
Cargo-Kult ist eine Form von Religion, die insbesondere im Südwestpazifik verbreitet ist. Sie ist hauptsächlich im Zweiten Weltkrieg entstanden, und zwar so: Die Inseln dort wurden von den Armeen der Industrienationen als Stützpunkte genutzt, und die staunenden Insulaner konnten sehen, wie Flugzeuge landeten und Schiffe anlegten und allerlei wundersame Dinge ausspieen, die sie noch nie gesehen hatten: Radios, Funkgeräte, Hämmer, Schrauben, Schokolade, was weiß ich noch. Die Bewohner der Inseln waren begeistert von diesen Produkten moderner Technologie und erkannten schnell, dass sie dem meisten überlegen waren, was sie selbst produzieren konnten. Irgendwann endete der Krieg, und das Militär zog ab. Die Flugzeuge landeten nicht mehr, und es legten auch keine Schiffe mehr an. Die Lieferungen blieben aus, und die Insulaner vermissten die Hämmer, die Schokolade und die Zangen und das Corned Beef. Na gut, das Corned Beef vielleicht nicht so, aber die Schokolade. Jedenfalls waren die Inselbewohner unzufrieden und dachten sich, was die Soldaten können, das können wir schon lange, wir haben ja auch lange genug zugesehen. Also bauten sie sich Kopfhörer und Mikrophone aus Holz, setzten sich in Bambushütten und taten so, als würden sie über Funk mit den Flugzeugen kommunizieren. Sie stellten sich auf die Landebahn und gestikulierten mit hölzernen Paddeln, um die Flugzeuge einzuweisen. Sie machten im Prinzip alles genauso wie die Soldaten, oder zumindest dachten sie das, einige von ihnen lassen sich offenbar bis heute nicht davon abbringen, dass das schon irgendwann noch klappen wird. Aber die Flugzeuge landen nicht mehr.
Der fantastische, leider inzwischen verstorbene, aber dennoch unbedingt lesenswerte Richard Feynman übertrug dieses Konzept auf Pseudowissenschaften, indem er von „Cargo Cult Science“ sprach. Er meinte damit diese Art von Blenderei, die sich sehr bemüht, wissenschaftlich auszusehen und oberflächlich betrachtet auch alles richtig macht – was manchmal nicht viel mehr heißt, als dass man einen Laborkittel anhat -, die aber auch unter einem eigentlich offensichtlichen Makel leidet: Die Flugzeuge landen nicht.
Offensichtliche Beispiele für Cargo-Kult-Wissenschaft sind Sachen wie Homöopathie oder Haarwuchsmittel, weniger offensichtliche finden sich durchaus auch in Feldern, die grundsätzlich einen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben könnten, aber für methodische Fehler sehr anfällig sind, wie die Sozialwissenschaften oder Psychologie, auf die Feynman sein Beispiel hauptsächlich bezog. Natürlich sind auch ganz strenge Naturwissenschaften wie Physik oder Chemie nicht völlig Immun, man denke nur an die berühmte Kalte Fusion. Die Betreiber werden selbst niemals zugeben, was sie da machen, und entrüstet behaupten, natürlich wären sie total wissenschaftlich, und die Flugzeuge würden schon noch kommen, es dauerte eben nur ein bisschen. Aber sie landen nicht.
Im englischen Sprachraum ist es üblich, diese Cargo-Kult-Analogie auch auf viele andere Lebensbereiche auszudehnen, und ich finde es sehr schade, dass sich das in Deutschland – meines Wissens – nie so richtig durchgesetzt hat. Beispiel gibt es genug, von Cargo-Kult-Journalismus über Cargo-Kult-Politik und Cargo-Kult-Schriftstellerei bis hin zu Cargo-Kult-Logik. Ich würde sogar behaupten, dass es Cargo-Kult-Blogger gibt, aber ich überlasse es euch, dafür Beispiele zu finden.
Cargo-Kult-Management gibt es auch. Ich kenne selbst ein paar Cargo-Kult-Führungskräfte, die sich große Mühe geben, alles nachzumachen, was sie bei richtigen Führungskräften sehen. Sie schimpfen manchmal mit ihren Mitarbeitern, aber hin und wieder loben sie sie auch. Sie wirken sehr seriös und arbeiten lange und hart. Sie analysieren Zahlen, veranstalten Meetings, geben und fordern Feedback und entwickeln Prozesse zur kontinuierlichen Verbesserung. Und dann verstehen sie einfach nicht, warum die Flugzeuge nicht landen.
Ihnen allen ist gemein, dass sie versuchen, so auszusehen wie das Original, und das manchmal auch sehr überzeugend tun, dass sie aber trotzdem nicht funktionieren, weil ihnen einige entscheidende Elemente fehlen: Ehrlichkeit, Offenheit, Durchblick, wirkliche Einsicht in die Grundlagen des Systems das sie imitieren. Eben alles, was über den äußeren Anschein hinausgeht. Wenn man genug Leute findet, die dumm genug sind, kann man damit eine ganze Zeitlang durchkommen und sogar eine Menge Geld verdienen. Es ist wie bei jedem Aberglauben: Wenn man der Hohepriester ist, kann es sich richtig lohnen. Trotzdem haben sie am Ende alle dasselbe grundlegende Problem, an dem man sie in aller Regel mühelos erkennen kann. Ihr wisst schon, welches ich meine.