Wir arbeiten gerne mit induktiven Schlüssen, und wir sind sehr gut darin, Muster zu erkennen, und oft klappt das im normalen Alltag auch sehr gut, und darauf sind wir so stolz, dass wir unsere Fähigkeit, mit diesen einfachen Mitteln zur Wahrheit zu gelangen, maßlos überschätzen. Die Sonne ging gestern früh auf, und vorgestern, also wird sie morgen auch wieder aufgehen. Ich wurde zweimal von Zigeunern bestohlen, also sind alle Zigeuner Diebe. Ich habe bisher jedes Halmaspiel gewonnen, bei dem ich meine blauen Ringelsocken trug, also bringen die wohl Glück beim Halmaspielen. Ich habe drei arschlochhafte Artikel von Henryk Broder gelesen, als muss er wohl ein Arschloch sein. Solche Schlussfolgerungen formen unser Weltbild, manchmal mit glücklicherweise richtigem Ergebnis (wie bei der Sonne), manchmal eher nicht so (wie bei den Socken). Und es fällt uns sehr schwer, uns wieder von ihnen zu trennen. Ich muss schon mehr als zwei oder drei Halmaspiele mit den Glückssocken verlieren, bevor ich ernsthaft beginne, an ihrer magischen Kraft zu zweifeln, und auch der vierte Zigeuner, der mich nicht bestiehlt, wird meine Überzeugung nicht erschüttern, dass dieses Volk (von dem ich nicht einmal genau sagen kann, ob es wirklich ein Volk ist und wer eigentlich dazugehört; im Zweifel wahrscheinlich alle Diebe) nur aus Verbrechern besteht.
Ich schreibe nicht nur deshalb „wir“, weil das netter klingt, sondern weil ich wirklich davon überzeugt bin, dass alle Zigeuner kriminell, äh… dieses Problem uns alle betrifft, auch mich. Ich wüsste gerne, wie viele und welche meiner Annahmen über die Welt und das Leben völlig falsch und irrational sind, aber ich werde damit leben müssen, das nie so recht wissen zu können. Vielleicht stimmt sogar diese ganze Einleitung nicht, und ich habe mich nur von den vielen anderen Leuten, die das behaupten, in die Irre führen lassen, weil ihre Behauptungen mehr oder weniger zufällig mit meiner persönlichen Erfahrung übereinstimmen.
So stolpern wir halb blind durch unser Leben und merken gar nicht, wie oft wir versehentlich gegen Wände, Bäume und andere Menschen laufen, und sind deshalb wahnsinnig stolz auf unsere Scharfsichtigkeit. Teilweise haben wir natürlich keine Wahl, denn wir müssen jeden Tag Hunderte, wenn nicht Tausende Entscheidungen auf Basis unzureichender Daten treffen. Wir haben zwar mit der Wissenschaft eine Methode entwickelt, die (anscheinend, bis auf Weiteres) wesentlich besser funktioniert als das, was wir euphemistisch „gesunden Menschenverstand“ nennen, aber bei vielen Alltagsfragen wäre es nicht praktikabel, auf wissenschaftlicher Genauigkeit zu bestehen, und wir können bestenfalls mit einer groben Näherung von Rationalität arbeiten.
Wofür diese lange Einleitung gut sein soll? Sie soll einerseits erklären, warum ich mich über das FAZ-Interview „Wir erziehen eine unmündige Generation“ einerseits geärgert habe, warum ich aber andererseits nicht so sicher bin, wie gerechtfertigt mein Ärger ist.
Dieses Interview enthält einerseits nahezu keine belastbare Information. Sie enthält jede Menge Eindrücke und Gefühle des Interviewten, die offenbar gut zu den Vorurteilen der Interviewer passen und deshalb in schöner Harmonie von niemandem infrage gestellt werden.
Sie sind ja auch Psychologe. Gibt es eine Überidentifikation mit dem Kind und enorme Versagensängste bei den Eltern?
Viele Eltern projizieren in der Tat das, was sie selbst nicht erreicht haben, in die Kinder hinein.
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